Pressemitteilung Nr. 696 vom 09.11.2015 Landeshauptstadt Potsdam gedenkt der sogenannten Reichspogromnacht

Oberbürgermeister Jann Jakobs nahm am heutigen 9. November gemeinsam mit Stadtkirchenpfarrer Simon Kuntze,  Michail Tkach und Ud Joffe von den Jüdischen Gemeinden in Potsdam, Propst Klaus-Günter Müller, sowie Hans-Jürgen Schulze-Eggert von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit an der Gedenkstunde zum 77. Jahrestag der so genannten Reichspogromnacht teil und hielt eine Ansprache.

Die Veranstaltung fand unter dem Spruch der Heiligen Schrift „Unterdrücke nicht die Fremden …“ aus dem 2. Buch Mose um 18 Uhr am Ort der früheren Synagoge neben der Post am Platz der Einheit eine Gedenkstunde statt.

Hier der Wortlaut seiner Ansprache (es gilt das gesprochene Wort):

„Sehr geehrter Herr Kuntze,
sehr geehrter Herr Tkach,
sehr geehrter Herr Joffe,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

im Februar 1933 richtete Margarete Rubert in ihrer Wohnung ein Modestudio zum Verkauf von farbigen Mänteln ein. Wenige Tage zuvor war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und die nationalsozialistische Diktatur verfestigt worden.

Die Schneiderin lebte mit ihrer Schwester Martha nur wenige Schritte von hier am Alten Markt. Margarete und Martha Rubert waren Jüdinnen. Für ein eigenes Geschäft sind Zuversicht, Vertrauen, Optimismus, Ausdauer, Kraft und Geld nötig. Und eine Perspektive für die Zukunft.
Margarete Rubert wurden diese Perspektive für die Zukunft und das Leben ab 1933 systematisch genommen. Sie wurde schikaniert, sie wurde diskriminiert, sie wurde bedroht, sie wurde entrechtet, sie wurde ausgegrenzt, sie wurde gekennzeichnet, sie wurde deportiert. Sie wurde getötet.

Margaretes Schwester Martha erlitt dasselbe Leid und wurde getötet durch die Shoa. Wie Millionen jüdischer Bürgerinnen und Bürger.

Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der Pogromnacht vom 9. November 1938. Dieser 77. Jahrestag gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen im damaligen Deutschen Reich mehr als 1.400  Synagogen, Bet-Stuben und Versammlungsräume in Flammen auf oder wurden verwüstet und geplündert. Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe wurden zerstört. Ab dem 10. November trieben die Nationalsozialisten landesweit mehr als 30.000 nach ihrer besonderen Vermögenslage ausgesuchte Juden in die Konzentrationslager. Wie viele von ihnen nicht mehr lebend herauskamen, ist unbekannt.

In unser kollektives Bildgedächtnis haben sich die Fotos der zerstörten und geschändeten Synagogen eingeschrieben, vor denen eine gaffende, schaulustige, neugierige und unbeteiligt wirkende, wenn auch unangenehm berührte Menschenmenge steht. So auch in Potsdam, wo der Fotograf Hans Weber dieses unerhörte Ereignis festhielt.

Der 9. November lehrt und mahnt uns, dem Schweigen, Wegschauen, Ignorieren, der Gleichgültigkeit jeden Tag aufs Neue mit Hinschauen und klaren Worten zu begegnen. Um dem Antisemitismus, dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit ein klares „Nein“ zu entgegnen. Um unsere grundlegenden Werte der Demokratie, der Vielfalt und der Achtung der unteilbaren Menschenrechte zu wahren. Um Mitmenschlichkeit zu leben.

Derzeit erleben wir in unserer Stadt und in unserem Land, wie unser solidarisches Mitgefühl und unsere solidarische Verantwortung gefragt sind. Tausende Menschen flüchten zu uns vor Krieg, Zerstörung und Verfolgung. Diese Verantwortung schließt ein, aktiv ein Klima der Freiheit, der Verständigung und der Toleranz zu schaffen. Dabei ist es mir ganz persönlich wichtig, den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt zu stellen. Als Grundlage und Voraussetzung, die Zukunft zu gestalten und Perspektiven für ein respektvolles Miteinander zu entwickeln.

Meine Damen und Herren, wir können das Leid von Margarete Rubert und das Leid der vielen jüdischen Potsdamerinnen und Potsdamer und das Leid der unfassbar vielen jüdischen Frauen, Männer und Kinder in der Shoa nicht ungeschehen machen. Aber wir müssen die Verfolgten, Geschändeten und Getöteten aus dem Kartell des Schweigens und Vergessens immer wieder neu befreien. Deswegen stehen wir heute hier, am Standort der ehemaligen Synagoge, die 1938 zerstört wurde und 1945 ausgebrannt ist. Deswegen verlegen wir Stolpersteine. Und deswegen nennen wir die Namen vertriebener und deportierter jüdischer Potsdamerinnen und Potsdamer.“