Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Kampf der Systeme

Potsdamer Olympioniken, Folge 6

Text: Horst Sperfeld

Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Kampf der Systeme

Potsdamer Olympioniken, Teil 6

München 1972

Hochleistungssport. Dieses Wort darf wohl seit 1972 in seiner Tiefe erst so richtig begriffen werden. Olympische Spiele in München - vielleicht findet sich hier sogar ein Synonym für unseren Einleitungsbegriff. Friedlicher und freundschaftlicher Wettstreit der Weltjugend? Oder heitere Spiele, wie der Werbeslogan der Münchner Organisatoren damals lautete? Das mag für einige naive Idealisten unter den alternden Herren vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) ehrlich gemeint gewesen sein. Die Realität sah gerade in jenem Jahr anders aus. Den scheußlichsten Ausdruck dieser Wirklichkeit lieferten in den frühen Morgenstunden des 5. September 1972 acht palästinensische Terroristen, als sie ins Olympische Dorf eindrangen und Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln nahmen. Das große Fest des Sports wurde damit 27 Jahre nach Beendigung des 2. Weltkriegs und des Holocaust ad absurdum geführt. 17 Menschen, davon elf Israelis, verloren beim Versuch, die Geiseln zu befreien, ihr Leben. "The Games must go on", rief trotz allem der nach 20 Jahren aus seinem Amt scheidende IOC-Präsident Avery Brundage bei der großen Trauerfeier im Olympiastadion aus. Man wollte sich nicht unterkriegen lassen, die Spiele wurden fortgesetzt. Und das war gut so.

Doch auch was vor und während den Wettbewerben im wohl noch immer schönsten Olympiapark der Welt ablief, hatte seine Unschuld längst verloren. Hier in Deutschland, wo die beiden konträren Weltsysteme direkt aufeinander prallten, sollte auch der sportliche Vergleich die jeweilige Überlegenheit des einen über das andere gesellschaftliche Idealbild beweisen. Bis heute wird gestritten, welche Sportler wohl mehr mit Hilfe unerlaubter Mittel zu Höchstleistungen getrieben worden sind, die aus dem Osten oder die aus dem Westen. Und die Potsdamer Sportler als Teil der nun erstmals mit eigener Hymne sowie der vom gebürtigen Potsdamer Box-Idol Manfred Wolke getragenen Hammer- und Sichel-Flagge einmarschierenden DDR-Mannschaft standen mitten drin im Kampf der Systeme. Der olympische Gedanke durfte dabei von ihnen nur zur Hälfte gelebt werden. Sportliche Höchstleistung: Ja. Begegnungen mit Athleten anderer Länder: Nein. Vor allem Treffs mit Westdeutschen waren verboten.

Einer, der davon eindrucksvoll erzählen kann, ist ein Potsdamer. Der Geher Peter Frenkel marschierte als schnellster Geher über 20 Kilometer in das herrliche Stadion unter dem stilisierten, auch die große Sport- und die Schwimmhalle abdeckende Zeltdach, das symbolisch wie ein Schirm die friedliebende Jugend der Welt zusammen halten sollte. Frenkels letzte Wettbewerbs-Meter gingen dank dem als Stadionsprecher fungierenden Schauspieler-Liebling Joachim "Blacky" Fuchsberger auch den 72.000 Zuschauern im weiten Rund unter die Haut. Der von seinem Sieg und der Euphorie um ihn herum emotional so aufgewühlte junge Mann aus dem anhaltinischen Eckartsberga unterschied nicht mehr - wie befohlen - zwischen "Freund und Feind". Er feierte seinen Erfolg mit Kontrahenten und Bekannten in der Münchner Innenstadt, saß dabei sogar neben Schauspiel-Größe Horst Buchholz und fand erst am nächsten Morgen zurück ins Olympische Dorf. Das gab Ärger mit der Delegationsleitung und beinahe den Rausschmiss aus der  Nationalmannschaft.

Doch auch die Trainingsmethodik nahm für die Vorbereitung auf die große System-Auseinandersetzung ganz neue Formen an. Es wurde in den Hochleistungssport investiert wie nie zuvor. Das Stadion im Potsdamer Luftschiffhafen zum Beispiel rüstete man extra um, baute statt der alten Aschenbahn eine moderne, das Laufen wetterunabhängiger machende Kunststoffpiste ein. Nicht irgendeine, sondern exakt die gleiche wie im Olympiastadion von München, damit die Sportler möglichst ähnliche Bedingungen wie im entscheidenden Wettkampf vorfanden. Auch wurde der Spitzensport immer mehr eine Angelegenheit für die Wissenschaft. So machte man sich in der DDR spätestens seit den Spielen von 1968 in der Höhe von Mexico-City Gedanken um die Möglichkeit, den menschlichen Körper durch Sauerstoffmangel zur besseren Verarbeitung der Atemluft und damit zu besserer Ausdauer zu erziehen. Man schickte die Athleten deshalb zum Training entweder in die Berge oder ließ sie in einer Unterdruck-Kammer der Fluggesellschaft Interflug auf einem Laufband rackern. Später bekam der Sport im Trainingszentrum Kienbaum sogar eine eigene Spezialluft-Kammer.

297 Sportler schickte die DDR 1972 zu den Spielen in München. In Etappen, versteht sich. Sie sollten ja bis kurz vor dem entscheidenden Moment trainieren und sich möglichst wenig im Lande des Hauptfeindes, der Bundesrepublik Deutschland, aufhalten. In der diesmal besonders prestigeträchtigen Nationenwertung belegte das kleine Land DDR mit 20 Gold-, 23 Silber- und 23 Bronzemedaillen den dritten Platz hinter der Sowjetunion (50/27/22) und den USA (33/31/30). Der politische Auftrag war erfüllt: Man hatte die bundesdeutschen Gastgeber (13/11/16) hinter sich gelassen. Von den beiden großen Potsdamer Leistungssportzentren, dem Armeesportklub Vorwärts und der Sportgemeinschaft Dynamo, hatten es 26 Wettkämpfer in dieses erfolgreiche Auswahl-Team geschafft. Unter den Dynamo-Ruderern, die zum ersten Mal bei Olympia dabei waren, befanden sich seinerzeit schon die Landvoigt-Zwillinge Bernd und Jörg, die später mehrere Jahre die Weltspitze im ungesteuerten Zweier dominierten. In München saßen die beiden aufstrebenden Brandenburger im DDR-Achter und ruderten zu Bronze.

Einen großen Auftritt hatte Dreispringer Jörg Drehmel, der mit einem Satz auf 17,31 Meter Silber gewann und damit 13 Jahre lang den gesamtdeutschen Rekord in dieser technisch so schwierigen Disziplin hielt. Burglinde Pollak lieferte im leichtathletischen Fünfkampf der bundesdeutschen Mitfavoritin Heide Rosendahl ein großartiges Duell und bekam am Ende Bronze hinter der Britin Mary Peters und Rosendahl. Spektakulär, aber tragisch verlief der zweitägige Wettbewerb für Zehnkämpfer Joachim Kirst. Als Führender nach der Hälfte der Disziplinen zum zweiten Tag angetreten, bemängelten die westdeutschen Kampfrichter kurz vor dem Start zu den 110 Meter Hürden die Laufschuhe des Potsdamers. Kirst musste jeweils zwei Spike-Dornen herausschrauben. Der Start verzögerte sich um über fünf Minuten, und die Debatten mit den Schiedsrichtern hatten an den Nerven gezerrt. Als es endlich los ging, zog sich der zweifache Europameister einen Muskelfaserriss zu, stürzte in die zweite Hürde und musste das Rennen und damit den gesamten Zehnkampf aufgeben. Als die Regelauslegung der Kampfrichter korrigiert wurde, stand der Russe Nikolai Awilow längst als König der Athleten fest und der um seinen Sieg gebrachte Joachim Kirst kühlte seine Wunden.

Trotz allem: Für die Sportler blieb Olympia in München und auch in späteren Jahren das was es seit der ersten Neuzeit-Ausgabe 1896 sein sollte: Ein großes emotionales Fest. Es war und ist ihr größtes Ziel einmal dabei zu sein, sich mit Athleten anderer Länder und anderer Disziplinen gleichermaßen wie eine Familie zu fühlen. 

Die Potsdamer Teilnehmer an den Olympischen Spielen 1972 in München:

Leichtathletik:

  • Peter Frenkel - 20 Kilometer Gehen: Gold
  • Jörg Drehmel - Dreisprung: Silber
  • Burglinde Pollak - Fünfkampf: Bronze
  • Hans-Joachim Zenk - 200 Meter: Platz 8
  • Hartmut Losch - Diskuswerfen: Platz 22
  • Manfred Stolle - Speerwerfen: Platz 9
  • Joachim Kirst - Zehnkampf: ausgeschieden
  • Ellen Strophal - 100 Meter: Vorlauf ausgeschieden, 200 Meter: Platz vier

Reiten:

  • Gerhard Brockmüller - Dressur, Einzel: Platz 13, Dressur, Mannschaft: Platz 5
  • Wolfgang Müller - Dressur, Einzel: Platz 16, Dressur, Mannschaft: Platz 5
  • Horst Köhler - Dressur, Einzel: Platz 17, Dressur Mannschaft: Platz 5
  • Hans-Werner Krüger - ohne Start

Fechten:

  • Horst Melzig - Degen, Einzel: Halbfinale (für ASV Leipzig), Degen, Mannschaft: 2. Runde

Rudern:

  • Klaus-Dieter Ludwig - Vierer mit: Silber (als Steuermann)
  • Hans-Joachim Borzym - Achter: Bronze
  • Bernd Landvoigt - Achter: Bronze
  • Jörg Landvoigt - Achter: Bronze
  • Heinrich Mederow - Achter: Bronze

Kanurennsport:

  • Petra Grabowski - Kajak-Zweier, 500 Meter: Silber
  • Reiner Kurth - Kajak-Zweier, 1000 Meter: Platz 4
  • Dirk Weise - Canadier-Einer, 1000 Meter: Platz 4, Canadier-Zweier, 1000 Meter: Platz 7
  • Dieter Lichtenberg - Canadier-Zweier, 1000 Meter: Platz 7
  • Joachim Wenzke - ohne Start

Turnen:

  • Wolfgang Thüne - Mehrkampf, Einzel: Platz 9, Mehrkampf, Mannschaft: Bronze, Reck: Platz 7; Ringe: Platz 10; Sprung: Platz 12; Seitpferd: Platz 14; Barren: Platz 15; Boden: Platz 19
  • Wolfgang Klotz - Mehrkampf, Einzel: Platz 17; Mehrkampf, Mannschaft: Bronze; Boden: Platz 14; Sprung: Platz 16; Ringe: Platz 16; Barren: Platz 17; Reck: Platz 20; Seitpferd: Platz 23
  • Reinhard Rychly - Mehrkampf, Einzel: Platz 26; Mehrkampf, Mannschaft: Bronze; Reck: Platz 15; Sprung: Platz 23; Barren: Platz 29; Boden: Platz 29; Ringe: Platz 31; Seitpferd: Platz 32
  • Jürgen Paeke - Mehrkampf, Einzel: Platz 28; Mehrkampf, Mannschaft: Bronze; Seitpferd: Platz 14; Sprung: Platz 20; Reck: Platz 21; Barren: Platz 36; Boden: Platz 36; Ringe: Platz 49.

Weitere Olympiateilnehmer mit einem Potsdamer Hintergrund:

Boxen:

  • Manfred Wolke - Weltergewicht      

Leichtathletik:

  • Rita Schmidt-Kirst - Hochsprung: Platz 5

Schwimmen:

  • Klaus Katzur - 100 Meter Brust: nach Zwischenlauf ausgeschieden; 200 Meter Brust: Platz 8; 4mal 100 Meter Lagen: Silber (der in Potsdam geborene Klaus Katzur startete für den ASK Rostock und war bereits 1964 in Tokio und 1968 in Mexiko Olympiateilnehmer. Er kehrte 1975 nach Potsdam zurück und arbeitete im ASK.)

Kanu-Slalom:

  • Rolf-Dieter Amend - Zweier-Canadier: Gold (Der gebürtige Magdeburger fuhr für den ASK Leipzig zum Olympiasieg, wirkte seit 1979 aber in Potsdam als erfolgreicher Kanurennsport-Trainer, ab 1991 sogar als Bundestrainer Kajak Herren, und war dabei an neun Olympiasiegen beteiligt.)

Quelle: Volker Kluge, "Olympische Sommerspiele, Die Chronik", Sportverlag Berlin, "Märkische Volksstimme"