Pressemitteilung Nr. 709 vom 07.11.2014 "Gerechte unter den Völkern“: Gedenktafel für das Ehepaar Sell

Oberbürgermeister Jann Jakobs hat heute zusammen mit dem Initiator David Rosenfeld eine Gedenktafel für die „Gerechte unter den Völkern“, Annemarie und Helmuth Sell, vor dem Wohnhaus des Ehepaares an der Karl-Marx-Straße 11 enthüllt. Sie hatten in der Zeit des Dritten Reiches einem jüdischen Jungen gefälschte Papiere besorgt und ihm somit die Ausreise ermöglicht.

„Ich freue mich, dass wir jetzt eine weitere Gedenktafel, die fünfte, für ;Gerechte unter den Völkern‘ enthüllen können. Denn das Ehepaar Sell hat in der schrecklichen Zeit des NS-Terrors Mut bewiesen und jüdischen Mitbürgern das Leben gerettet“, sagte Oberbürgermeister Jann Jakobs. „Damit ehren wir das Potsdamer Ehepaar noch einmal in ihrer Heimatstadt, nachdem die israelische Gedenkstätte Yad Vashem ihnen den Titel verliehen hatte. Ich danke dabei dem Historiker Kurt Baller, dass er uns die Geschichte der Sells näher gebracht hat.“

Es war der 20. Oktober 2002, als Dr. Helmuth Sell  (14. Februar 1898 – 07. Februar 1956) und seine Frau Annemarie (05. Januar 1896 – 28. Dezember 1971) die Ehrung in der Synagoge Agut Achim in Schenectady, Staat New York (USA), posthum durch Yahel Vilan, Konsul Israels in New York, und Stefan Schluter, deutscher Konsul in New York, verliehen wurde. Ursprünlgich schon 1981 bekamen sie die Auszeichnung, doch konnte die Familie seinerzeit nicht gefunden werden. Der Enkel aber entdeckte in Herbert Straetens Buch „Andere Deutsche unter Hitler“ eine Liste der Deutschen, die mit diesem Titel geehrt wurden – darunter auch die Namen seiner Großeltern.

Dr. Helmuth Sell, als Sohn eines Patentanwalts geboren, verlebte in Berlin seine Kindheit und Jugend. Abitur und Physikstudium verliefen programmgemäß. Auch die Arbeit als Assistent an der Berliner Universität. Dort lernte er seine spätere Frau kennen, die Mathematik studierte.

Dr. Sell arbeitete bei Siemens als Leiter des Labors für Messtechnik und Elektroakustik. Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht an sich gerissen hatten, wurde der Druck der Firmenleitung, als Abteilungsleiter in die NSDAP einzutreten, so stark, dass Dr. Sell, Sozialdemokrat von Grund auf, den Betrieb verließ. Er gründete eine eigene Firma in Berlin und produzierte Schwergehörigengeräte. 1932 siedelten er und seine Familie von Berlin nach Babelsberg in die heutige Karl-Marx-Str. 11 über. Dort pflegte die Familie engen Kontakt zu jüdischen Freunden. Frau Matrovitz, eine Sängerin, Herr Dubrovich und Fräulein Bischof, beide Violinisten. Jede Woche wurde gemeinsam musiziert. Die Freunde aber bekamen den Druck der antijüdischen Gesetzgebung immer stärker zu spüren. Die einen wurden zur Ausreise gezwungen, den anderen erschwert oder unmöglich gemacht. Hier halfen Dr. Helmuth Sell, seine Frau und ein enger Familienfreund, Dr. Richard Mischler. Der fälschte Pässe, mit denen Juden ungehindert ausreisen und ihr Vermögen in Sicherheit bringen konnten. Versteckt wurden viele vorübergehend in Bergholz-Rehbrücke, in einem abseits gelegenen Haus der heutigen Feldstraße. Mindestens zwei sind namentlich bekannt: Dr. Haubitz und Dr. Bergmann.

Auch in seinem Berliner Betrieb und in seinem Babelsberger Haus versteckte Dr. Sell in Gefahr befindliche Juden. So Dr. Ezra Ben Gershom. Das war 1943. Der Jude Ezra Ben Gershom war 25 Jahre alt und arbeitete in der Berliner Fabrik des Dr. Helmuth Sell. Um nicht aufzufallen, hatte er sich – unter falschem Namen (Wilhelm Schneider) – als Hitlerjunge eine Identität geschaffen, konnte aber nicht sicher sein, eines Tages nicht doch entdeckt zu werden. Seine Eltern nämlich waren bereits verhaftet worden. In seiner Not wandte er sich an Dr. Helmuth Sell. Ermutigt wurde er zu diesem Schritt dadurch, dass er im Büro Sells kein Bild von Hitler oder einer anderen Nazigröße hatte hängen sehen. Dr. Sell reagierte – wie Gershom später in seinen Erinnerungen schrieb – sofort: „Sie müssen vor mir keine Angst haben. Ich bin ein alter Sozialdemokrat. Aber, zur Hölle, was sollen wir tun? Ich kann Sie in dieser Situation nicht allein lassen. Es ist meine Pflicht als Mensch, Ihnen zu helfen.“

Die Sells verbargen ihn in ihrer Babelsberger Wohnung und Ben Gershom konnte später ins Ausland fliehen. Über Ungarn gelangte er schließlich nach Palästina. Jahre später schlug er Dr. Helmuth Sell und seine Frau für die Ehrung „Gerechte unter den Völkern“ vor. Die Rettung Ben Gershoms war kein Einzelfall. Dr. Günther Lubowski, dem jüdischen Ehemann seiner Sekretärin, half er ebenfalls. Doch der wurde in Berlin, er arbeitete als Gepäckträger am Lehrter Bahnhof, entdeckt und in ein Lager nach Großbeeren gebracht. Er überlebte wie durch ein Wunder.