Pressemitteilung Nr. 299 vom 10.06.2005 "Wie ein 11-jähriger in Babelsberg das Jahr 1945 erlebte"

- Vortrag im Rahmen der Sonderausstellung „ Kohldampf und Bombentrichter. Potsdam 1945 – Tag um Tag“ -

Am Donnerstag, dem 16. Juni um 18:00 Uhr hält Dr. Klaus Arlt in den Räumen des Potsdam-Museums in der Benkertstraße 3 einen Vortag darüber, wie ein 11-jähriger in Babelsberg das Jahr 1945 erlebte. Arlt ist Vorsitzender der Studiengemeinschaft Sanssouci e.V. und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Stadtgeschichte Potsdams. Als profunder Kenner betont er jedoch, dass sein Vortrag keine historische Abhandlung ist, sondern ein Bild aus kindlichem Erleben und Verhalten in Ausnahmesituationen in weitgehend kleinbürgerlichem Milieu schildert. Ganz bewusst wendet sich der Referent daher nicht in erster Linie an erinnerungsfreudige Senioren, sondern wünscht sich auch jüngere Zuhörer bei seinen Ausführungen. Der Vortrag findet im Rahmen der Sonderausstellung „ Kohldampf und Bombentrichter. Potsdam 1945 – Tag um Tag“ statt. Interessenten sind herzlich eingeladen.


„Wie ein 11-jähriger in Babelsberg das Jahr 1945 erlebte“
Kurzfassung zum Vortrag, Dr. Klaus Arlt

Kriegs-Kinderjahre prägen anders als Wohlstands-Friedensjahre. Zwar lief das Leben äußerlich in seinen Grundfunktionen bis zum Kriegsende durch Lebensmittelkarten, Schulunterricht oder Pimpfendienst einigermaßen geregelt ab. Aber es war eine ständige Bedrohung da: Fliegeralarme, die Tags die Schule und nachts den Schlaf unterbrachen, Väter, deren Feldpostbriefe sehnlichst erwartet wurden, Mütter, die zur Arbeit in der Rüstungsfabrik verpflichtet waren. Und zwangsläufig gab es die Bombeneinschläge in der Nachbarschaft, die Schulkameraden, die nie mehr in die Schule kamen, die Todesanzeigen der gefallenen Väter in der „Potsdamer Tageszeitung“. In der Großbeerenstraße zogen Flüchtlingstrecks.
Seit dem Bombenangriff auf Potsdam am 14. April 1945 lebten wir meist im Keller – man wusste ja nicht was noch kommt - und das Näherrücken der Front war nun nicht nur BBC-Hörern bekannt. Die letzten Tage des Nazireiches waren von einer merkwürdigen Klammheit erfüllt – es war ein Interregnum, in dem die Oberen der alten Macht sich aus dem Staube machten und die Unteren ihre Parteiabzeichen in den Rinnstein warfen. Drei blutjunge Soldaten gruben sich an der Straßenecke ein, um von dort Russenpanzer abzuschießen. Aber einige ältere Nachbarn überzeugten sie, „abzuhauen“ – die Panzerfäuste blieben einsam an der Hauswand stehen, und bald sah der Vorgarten wieder wie vorher aus. Dann hingen weiße Fahnen an jedem Haus. Ein Unteroffizier der Wehrmacht, den linken Arm in der Binde, mit der Rechten ein Gewehr schwenkend, lief brüllend die Straße entlang, die weißen Fahnen verfluchend, und führte den einzigen Mann den er fand, zur Polizeiwache ab. Die gab es aber nicht mehr, was in dem Fall lebensrettend war.
Die Artillerie der nahen Front war unüberhörbar, sehr unmittelbar bedrohlich waren aber die Tiefflieger, die auf alles schossen, was sich bewegte. Man blieb in Deckung. Dann flogen von Babelsberg aus die Katjuschasalven nach Potsdam hinüber.
Den nächsten Uniformierten, sahen wir aus dem Kellerloch im Nachbargarten: der erste Russe. Vorsichtige Erkundungen sahen dann die Rote Armee, zum Teil mit Panjewagen exotisch anmutend, in der Großbeerenstraße. Dort bereiteten sich auch die ehemaligen Zwangsarbeiter auf ihre Heimreise vor, dazu brauchten sie Fahrräder und Wagen. Mutige Einheimische schleppten aus den Gärtnereien Gemüsepflanzen für ihre Gärten weg. Überhaupt begann nun ein Chaos der Herrenlosigkeit: durch Plünderungen, vor allem der Proviantämter und der Lebensmittelfabriken, aber auch der „Ufa“ (hier waren die Textilien des Kostümfundus interessant) verschaffte man sich Lebensnotwendiges. Auch die Angehörigen der Roten Armee schienen aus der Disziplin entlassen, versuchten auf eigene Faust Beute zu machen und sich der Frauen zu bemächtigen. Dazu kamen die Beschlagnahmen ganzer Straßenzüge durch die Russen, so dass wir ständig in der Angst vor dem sehr kurzfristigen Hinauswurf aus dem Haus lebten.
Die Schule begann wieder im Mai, aber auch dort waren die alten Strukturen und die Disziplin bald dahin, denn die zuerst noch zum Dienst angetretenen NSDAP-Lehrer wurden entlassen und durch manchmal ziemlich unfähige Leute ersetzt. So war es gut, dass die Sommerferien Zeit gaben, das Schulsystem zu reorganisieren. Die Schule war für uns ohnehin lästig, denn wir brauchten die Zeit dringender, um stundenlang beim Bäcker oder anderen Lebensmittelverteilern anzustehen, Kohlen bei den Russen zu klauen, für die halbe Straße Wasser zu pumpen oder Gras für die Karnickel zu werben.

Ein Einschnitt war die Potsdamer Konferenz, für die das Villenviertel Neubabelsberg „geräumt “ wurde. Überflüssiges Villeninventar, wie Kunstgegenstände, Möbel, Bücher wurden von den Russen in den Wald beim Landgut Eule gefahren, wo es von der Bevölkerung „übernommen“ wurde. Die Mütter nähten Fahnen der Siegermächte, die an jedem Haus hängen mussten. Wir Kinder tauschten weggeworfene NSDAP-Abzeichen bei den Amerikanern gegen Kaugummi. An der „Eule“ luden die Amerikaner nun ihre Kantinenabfälle ab, die wiederum von der hungrigen deutschen Bevölkerung gierig eingesammelt wurden, dabei von den GIs mit Beute-Leicas eifrig fotografiert.
Gegen den Herbst normalisierte sich die Lage. Strom, Gas, Wasser und Kanalisation begannen – wenn auch stockend – zu funktionieren. Auch die Straßen-Gullys nahmen wieder Wasser auf, weil die Verstopfungen durch weggeworfene SS- und SA-Uniformen inzwischen beseitigt worden waren. Dennoch blieb der Wunsch des Elfjährigen, ein ganzes Brot für sich allein zu besitzen, noch lange unerfüllt.