1871 – 1918 Aufschwung der kaiserlichen Bürgerstadt

Die mit der Krönung von Wilhelm I. zum deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles erfolgte Reichseinigung am 18. Januar 1871 machte Potsdam über Nacht zur kaiserlichen Residenzstadt. In den folgenden Jahren der Gründerzeit erlebte das Kaiserreich einen enormen Boom, der auch Potsdam erfasste. Hier vollzog zunächst die städtische Infrastruktur einen rasanten Modernisierungsschub. Der Magistrat der Stadt hatte 1874 die englische „City of Potsdam Waterworks Company“ mit dem Aufbau einer zentralen Wasserversorgung und dem Betrieb eines Wasserwerks beauftragt, das bereits zwei Jahre später seine Arbeit aufnahm. Das Leitungsnetz wurde in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut und weitere Stadtgebiete sowie etliche Dörfer aus dem Umland daran angeschlossen.

Der steigende Wasserverbrauch sorgte zugleich für mehr Abwasser, so dass der Magistrat Ende der 1870er Jahre den Bau eines zentralen unterirdischen Entwässerungssystems in Auftrag gab. Doch erst 1889 ging die erste Städtische Entwässerungsanlage in der Berliner Vorstadt in Betrieb. Mit dem Bau eines weiteren Klärwerks verfügte fünf Jahre später auch das übrige Stadtgebiet über eine funktionierende Entwässerung.

Neben einer modernen Wasser- und Abwasserversorgung förderte der Magistrat die Modernisierung der Gas- und Elektrizitätsversorgung. Ab 1906 wurde die Straßenbeleuchtung nach und nach von Gas- und Öllaternen auf Strombeleuchtung umgestellt. Das 1902 in Betrieb gegangene erste Elektrizitätswerk ebnete auch den Weg für die Elektrifizierung der Straßenbahn ab 1907. Seit 1879 verfügte die Stadt bereits über eine „Pferde-Eisenbahn“, die 1888 über die Lange Brücke bis zum Hauptbahnhof erweitert wurde. 1908 erfolgte die Eröffnung der Teilstrecke nach Nowawes und 1913 die Erweiterung bis zum Luftschiffhafen. Das Areal am Nordwestufer des Templiner Sees, wo 1911 der erste Zeppelin gelandet war, wollte die Stadt zusammen mit der Luftschiffbau-Zeppelin AG Friedrichshafen zu einem europäischen Luftfahrtzentrum entwickeln.

Auch die Verkehrswege wurden ausgebaut. Im Umland entstand 1874-1878 der Sacrow-Petzow-Kanal und 1899-1906 der Teltowkanal. Die steinerne Glienicker Brücke wurde 1906/07 durch eine moderne Stahlkonstruktion ersetzt. In der Innenstadt erhielten die Hauptstraßen zwischen 1905 und 1910 eine Asphaltdecke.

Aus der Waisen- und Armenfürsorge entwickelte sich eine moderne Gesundheitsfürsorge. Neben dem bereits vorhandenen städtischen Krankenhaus in der Türkstraße eröffnete 1872 das „St.-Josefs-Krankenhaus“ und 1890 das „Auguste-Viktoria-Krankenhaus“ sowie das Oberlinkrankenhaus. Der Oberlinverein hatte seit 1879 in Nowawes ein ganzes Areal mit Einrichtungen für körperlich und geistig Beeinträchtigte errichtet. Ähnliche sozialdiakonische Ziele verfolgte auch die 1901 gegründete Hoffbauer-Stiftung, die in den folgenden Jahren auf der Halbinsel Tornow (heute: Hermannswerder) verschiedene Diakonisseneinrichtungen wie Waisenhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Unterrichts- und Seminargebäude sowie eine Inselkirche baute. Als erstes öffentliches Volksbad öffnete 1913 das Werner-Alfred-Bad.

Der Abriss der Stadtmauer in den 1890er Jahren führte zu einer regen Bautätigkeit in den Potsdamer Vorstädten. Die Zahl der Einwohner stieg von 43.901 im Jahr der Reichsgründung auf über 62.000 in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden im Gründerzeitstil ganze Straßenzüge in der Berliner Vorstadt, in der Brandenburger Vorstadt sowie in Babelsberg-Süd. In Neubabelsberg und in der Nauener Vorstand ließen sich höhere Offiziere, Staats- und Regierungsbeamte sowie zu Wohlstand gekommene Industrielle noble Villen von namhaften Architekten errichten.

Im Stadtgebiet wichen alte Gebäude einer ganzen Reihe neuer stadtbildprägender Verwaltungsbauten wie zum Beispiel der kaiserlichen Oberpostdirektion (heute: Hauptpost) oder dem Regierungsgebäude der Provinzialverwaltung (heute: Rathaus). Am Stadtrand entstanden neue Kasernenanlagen für die Potsdamer Garderegimenter. Die bauliche Entwicklung untermauerte den herausragenden Stellenwert Potsdams als kaiserliche Behörden-, Verwaltungs- und Garnisonstadt. Handwerks- Handels- und Dienstleistungsbetriebe wie das 1879 gegründete Warenhaus M. Hirsch in der Brandenburger Straße entwickelten sich zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor, um die Bedürfnisse von Hof, Garnison, Behörden und Bevölkerung zu decken.

Industriebetriebe siedelten sich eher im benachbarten Nowawes an, das 1907 mit Neuendorf zur Landgemeinde Nowawes fusionierte. Entlang der Berlin-Potsdamer-Eisenbahn entstanden zahlreiche neue Fabriken, unter anderem 1899 die Lokomotivfabrik Orenstein & Koppel AG. Auf dem Telegrafenberg erhielen das Astrophysikalische Observatorium (1876/1879), das Meteorologisch-Magnetische Observatorium (1888/1890) und das Geodätische Institut (1892) moderne Beobachtungs- und Forschungsgebäude, deren klassizistische Klinger-Backsteinbauten einen einzigartigen Wissenschaftspark bilden. Mit bahnbrechenden Erkenntnissen etablierten sie den Telegrafenberg als weltweit anerkanntes Forschungszentrum.

Im November 1911 begann die Berliner Bioscop-Filmgesellschaft mit dem Umbau eines ungenutzten Fabrikgebäudes mitsamt Außengelände in Nowawes. Mit dem ersten gedrehten Film im Jahr 1912 legte sie den Grundstein für eine bis heute erfolgreiche Filmtradition.

In der sich zuspitzenden Julikrise 1914 unterzeichnete Wilhelm II. im Neuen Palais schließlich die Mobilmachung der kaiserlichen Armee. Der Erste Weltkrieg veränderte auch das Leben in Potsdam. Die Uniformierten aus den Kasernen verschwanden aus dem Stadtbild und die Industrie stellte auf Kriegsproduktion um. Im Neuen Garten wurde zwischen 1914 und 1917 mit dem Schloss Cecilienhof das letzte Hohenzollernschloss im englischen Landhausstil für die Familie des Kronprinzen Wilhelm gebaut, der trotz der Abdankung seines Vaters 1918 noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dort wohnte. Nach Kriegsende 1918 wurden 1.664 Potsdamer gezählt, die auf den Schlachtfeldern ihr Leben verloren hatten.

Autor: Dr. Johannes Leicht (Geschichtslotsen)