Pressemitteilung Nr. 782 vom 09.11.2017 Gedenken zum 79. Jahrestag der Reichspogromnacht

Mike Schubert war unter den Teilnehmern der Gedenkstunde und hielt ein Grußwort
© Mike Schubert war unter den Teilnehmern der Gedenkstunde und hielt ein Grußwort
Mike Schubert war unter den Teilnehmern der Gedenkstunde und hielt ein Grußwort. Foto Landeshaupstadt Potsdam/ Robert Schnabel

Der Beigeordnete für Soziales, Jugend, Gesundheit und Ordnung, Mike Schubert, nahm heute gemeinsam mit den Jüdischen Gemeinden, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Potsdam und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sowie Brandenburgs Finanzminister Christian Görke zum 79. Jahrestag der so genannten Reichspogromnacht an einer Gedenkveranstaltung teil und hielt eine Ansprache. Hier der Wortlaut der Rede:

Es gilt das gesprochene Wort

„Sehr geehrter Herr Minister Görke,
sehr geehrter Herr Tkach,
sehr geehrter Rabbiner Pressmann,
sehr geehrter Herr Voller-Morgenstern,
sehr geehrte Frau Wawrzyniak,
sehr geehrter Herr Kuntze,
sehr  geehrte Fraktionsvorsitzende,
Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete,
liebe Schülerinnen und Schüler,

meine sehr verehrten Damen und Herren,
der 9. November ist ein Tag des Gedenkens.
Heute Abend, hier am Standort der ehemaligen Synagoge, erinnern wir an eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.
 
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden überall in Deutschland jüdische Gotteshäuser geschändet, geplündert, zerstört und in Brand gesteckt.
400 Synagogen gingen in Flammen auf oder wurden schwer beschädigt. Tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört, hunderte Schaufenster eingeschlagen.

Ab dem 10. November trieben die Nationalsozialisten landesweit fast 30.000 Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens in Gefängnisse oder Konzentrationslager, wo sie gedemütigt, misshandelt und in den Tod getrieben wurden. Ihr Vermögen wurde konfisziert. Potsdam blieb keineswegs verschont. Die reichsweiten Pogrome erreichten auch unsere Stadt. Auch die Potsdamer Synagoge, die an dieser Stelle stand, wurde verwüstet, die Thorarolle in Stücke zerrissen.

Die Schergen der Nationalsozialisten raubten der jüdischen Gemeinde damit ihr Allerheiligstes. Genauso stark wiegt für mich das Bild vom Tag danach. Nach der Schändung gab es leider vor der zerstörten Synagoge viele schadenfrohe Gaffer in unserer Stadt. Noch mehr Potsdamer schauten beschämt weg. Wahr ist auch: Ein breiter Aufschrei der Empörung über das Geschehene blieb aus.

Meine Damen und Herren,                                            
mit diesem Tag hatte die Verfolgung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Den Gewaltexzessen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war eine systematische Ausgrenzung und Entrechtung der Menschen jüdischen Glaubens vorausgegangen.
Bereits ab 1933 mussten viele jüdische Gemeinden das brutale Vorgehen der neuen Machthaber erfahren.

In den Zeitungen wurde offen gegen Juden gehetzt. Per Gesetz entzog man ihnen Schritt für Schritt die Rechts- und Wirtschaftsgrundlage. Der 9. November 1938 war indes ein Wendepunkt für die Verfolgung der jüdischen Mitbürger. Eine Zeit der völligen Rechtlosigkeit begann. Die Pogrome markierten den endgültigen Übergang von der Diskriminierung seit 1933 zur systematischen Verfolgung und Vernichtung.

Meine Damen und Herren,
an diesem Ort, an dem wir heute erinnern, wütete der Terror in Potsdam damals am schlimmsten, zeigte der Nationalsozialismus seine hässliche Fratze.
Wir gedenken der vielen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, denen vor 79 Jahren ein ungeheuerliches Unrecht widerfuhr.
Wir gedenken den Frauen, Männern und Kindern, die verhöhnt, gedemütigt, verfolgt wurden.
Und wir gedenken all der Menschen, die kaltblütig ermordet wurden.

Die Namen der Opfer stehen im Zentrum des Gedenkens am 9. November. Wir erinnern in diesem Jahr namentlich an die 50 Männer, Frauen und Kinder aus Potsdam, die im bitterkalten Januar 1942 nach Riga deportiert wurden. Nur zwei Frauen – wir hörten es bereits – überlebten dieses Martyrium. Diese Potsdamerinnen und Potsdamer gehörten zu rund 25.000 Juden, die aus dem damaligen Deutschen Reich während des Zweiten Weltkrieges in das von deutschen Truppen besetzte Lettland verschleppt wurden. Nur eine Minderheit überlebte. Und was blieb von den 70.000 lettischen Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen? – Oft nicht einmal deren Namen in einem Verzeichnis.

Doch jedes erlittene Leid, jede Drangsalierung, jede Verfolgung, jeder Tod der Shoa hat einen Namen.  Jeder dieser Namen ringt dem Holocaust das Abstrakte dieses unvorstellbaren Völkermordes ab. Jeder Name macht aus dem größten Menschheitsverbrechen eine einzelne, persönliche Geschichte.

Die Namen der Opfer sind zu einem Anker unserer Gedenkkultur geworden. Diejenigen, die diese Namen etwa aus Deportationslisten ermitteln, wissen um die mühevolle Recherchearbeit.

Manchmal führen die Namen zu einem Menschenleben, das sich durch Nachfahren, familiäre Lebenserinnerungen, vielleicht durch Fotografien und Schriftstücke den Nachgeborenen auffächert.
Manchmal jedoch haben wir nur den Namen – und nicht mehr.

Meine Damen und Herren,
der 9. November ist ein Tag der Trauer – ja!
Der 9. November bringt uns aber auch zusammen in unseren Gedanken.
Er eint uns mit all unseren unterschiedlichen Geschichten und Wurzeln.

Hier stehen viele Potsdamer Bürgerinnen und Bürger verschiedener Generationen.
Ältere Menschen, die selbst noch die Erfahrung von Krieg und Verfolgung gemacht haben. Die Generation ihrer Kinder, die das Erlebte noch aus erster Hand von ihren Eltern erfahren haben.                    Meine Generation, die den Hass und die Intoleranz, wenn überhaupt noch, von ihren Großeltern, aber zumindest aus Büchern erfahren haben.

Und jetzt die Generation der heutigen Schülerinnen und Schüler, die mit Zeitzeugenprojekten ihren Beitrag zum Erinnern und Gedenken leisten.
Aus dem Gedenken an die Reichspogromnacht und ihrer Opfer erhalten wir unsere Verpflichtung und unseren Auftrag, der nicht endet, auch wenn die Zahl der Zeitzeugen immer geringer wird.

Das Geschehene niemals zu vergessen, die Namen der Opfer zu ehren und deutlich Position zu beziehen gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit, gegen Gewalt und Ausgrenzung, das ist ein zeitloser Auftrag.
Er muss und wird uns gelingen.

Unsere Stadt ist tolerant, weltoffen, aber wenn nötig wehrhaft gegen alle, die Hass und Intoleranz sähen wollen.

Vielen Dank!