Pressemitteilung Nr. 742 vom 09.11.2018 Der Auftakt zum Völkermord

Landeshauptstadt Potsdam gedenkt der Opfer am 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
Den Novemberpogromen wurde 2018 am Ort der Neuen Synagoge gedacht
© Den Novemberpogromen wurde 2018 am Ort der Neuen Synagoge gedacht
Den Novemberpogromen wurde 2018 am Ort der Neuen Synagoge gedacht. Foto Landeshauptstadt Potsdam/ Stefan Schulz

Oberbürgermeister Jann Jakobs hat heute am 80. Jahrestag der Reichspogromnacht gemeinsam mit der Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung, Birgit Müller, und dem Chef der Staatskanzlei, Martin Gorholt, der Opfer gedacht. Folgend dokumentieren wir die Rede des Oberbürgermeisters:

- Es gilt das gesprochene Wort -

„Sehr geehrter Herr Rabbiner Presmann,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete,
sehr geehrter Herr Gorholt,
sehr geehrter Herr Tkach,
sehr geehrter Herr Joffe,
sehr geehrter Herr Kuntze,
liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,
meine Damen und Herren,

zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht gedenken wir in diesem Jahr in einer ganz besonderen Weise. Mit dem Weg von der alten Synagoge am Platz der Einheit, von der kein Stein, nur die Erinnerung geblieben ist, hin zur neuen Synagoge, die hier entstehen wird, möchten wir von der Vergangenheit aus in die Zukunft blicken. Ich bin dankbar, dass nach der völligen Auslöschung der jüdischen Gemeinde während des Nationalsozialismus heute wieder jüdisches Leben unsere Stadt in vielfältiger Weise bereichert.

Jüdisches Leben braucht einen Ort. Ein Haus der Versammlung, der Begegnung, des Studiums, ein Haus des Gebets.

Heute bilden die jüdischen Gemeinden Potsdams einen selbstverständlichen und wesentlichen Teil der religiösen und kulturellen Vielfalt unserer Stadt. Und führen doch ein vielfach provisorisches Dasein. Mit dem Neubau der Synagoge wird das jüdische Leben dieses Provisorium endlich hinter sich lassen und das neue Gotteshaus das repräsentieren können, was es im Kern ausmacht: eine Begegnungsstätte für alle mitten in der Stadt.

Der Weg zur Realisierung dieses für Potsdam eminent wichtigen Projektes war schwierig. Er lohnt sich aber allemal. Die neue Synagoge wird das jüdische Leben wieder sichtbarer machen für alle. So sichtbar und integriert im Stadtgefüge, wie es die alte Synagoge am heutigen Platz der Einheit war.

Diese einstige Synagoge war ein Neubau für die damalige jüdische Gemeinde. Er wurde 1903 eingeweiht. Erbaut vom Architekten Julius Otto Kerwien, atmete die Fassade des Synagogenbaus den Geist des süddeutschen Hochbarocks und kam dem Wunsch der Auftraggeber nach, ein sichtbares Zeichen der kulturellen Assimilation der jüdischen Bevölkerung zu sein. In seiner Einweihungsrede beschwor Rabbiner Kaelter den Frieden. Ich zitiere: „Diesen Frieden aber wünsche ich nicht nur auf diese engere Gemeinde herab, sondern auf die ganze Stadt. Mitten zwischen den beiden herrlichen Gotteshäusern der beiden anderen Religionsgemeinschaften, dort dem herrlichen Kuppelbau der Nikolaikirche, hier der schönen katholischen Kirche, liegt dieses bescheidene Haus. Mögen auch die Formen verschieden sein, unter denen wir Gott suchen und verehren, aber gleich sei doch vor Gott jeder Mensch seinem geistigen Inhalt nach.“

Die jüdischen Gemeindemitglieder, damals knapp 500, werden hoffnungsvoll auf den neuen Synagogenbau geschaut haben. Weit sichtbar leuchtete ein vergoldeter Davidstern an dem Gotteshaus. Jüdische Familien wie die Kanns, die Zielenzigers, Hirschbergs, Neumanns oder Bernhards hatten nun einen neuen geistigen und sozialen Mittelpunkt. Der Synagogenbau war durchaus Ausdruck einer lange währenden Assimilation der Juden während des 19. Jahrhunderts. Rechtlich waren sie gleichgestellt. Und doch: Ressentiments, Anfeindungen und Diskriminierungen gehörten bei weitem nicht der Vergangenheit an. Ganz im Gegenteil. Mit der Gleichstellung der Juden im Kaiserreich hatte sich ein Antisemitismus in der Gesellschaft breit gemacht, der auf rassistischen Anschauungen beruhte. Judenhass mit angeblich wissenschaftlicher Begründung.

Dieser Antisemitismus wucherte in den folgenden Jahren überall in Europa. Die Nationalsozialisten nutzen ihn seit ihrer Macht ab 1933 geschickt aus, um ihre rassistische Ideologie zu begründen und durchzusetzen. Getragen von der Mehrheit der Bevölkerung.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, nur 35 Jahre nach der Einweihung der neuen Synagoge am damaligen Wilhelmplatz, wurde der Bau des Friedens geplündert und geschändet. Wenig später der Davidstern von der Fassade geschlagen.

In dieser Nacht verwüsteten Angehörige der SA und SS im gesamten damaligen deutschen Reich Synagogen und Betstuben, zerstörten jüdische Friedhöfe, raubten Geschäfte aus und brachen in Wohnungen ein. Attackierten jüdische Mitbürger auf offener Straße, inhaftierten und verschleppten sie.

Es war eine Nacht des Schreckens für die jüdischen Mitbürger in Deutschland wie in unserer Stadt. Doch die Pogrome kamen nicht überraschend. Der Judenhass wurde mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten offen geschürt. Jüdische Geschäfte boykottiert, Gesetze zur Entrechtung jüdischer Bürger erlassen, unverhohlen Menschen stigmatisiert. Die Novemberpogrome 1938 bedeuteten einen furchtbaren Höhepunkt des Judenhasses und markierten den Übergang von der Diskriminierung jüdischer Mitbürger seit 1933 zur systematischen Verfolgung und Vernichtung. Sie bildeten den Auftakt zum Völkermord.

So möchten wir an diesem heutigen Tag in erster Linie den Opfern der Novemberpogrome gedenken. Unsere Gedenken sind bei allen Männern, Frauen und Kindern jüdischer Herkunft, die verfolgt, diskriminiert, weggesperrt und getötet wurden.

Wenn wir nun heute am Baufeld für eine neue Synagoge stehen, dürfen wir diese Vergangenheit nicht außer Acht lassen. Der Blick in die Vergangenheit lehrt uns, wachsam zu sein. Und das ist notwendiger denn je. Antisemitismus gehört auch heute nicht der Vergangenheit an. Gegen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wird auch heute noch gepöbelt, Gewalt angedroht, die Kippa vom Kopf gerissen oder jüdische Grabsteine beschmiert. Geschichtsrelativismus ist längst hoffähig geworden, unverhohlen wird der Hitlergruß auf offener Straße gezeigt.

Meine Damen und Herren, wenn ich an die Eröffnung der Synagoge von 1903 erinnerte und wenn wir heute über die neue Synagoge an diesem Ort sprechen, dann seien Sie sich über eine Sache im Klaren: Es liegt in unserer Hand, die Zukunft zu gestalten, und zwar so zu gestalten, dass sich die dunklen Kapitel unserer Geschichte niemals wiederholen. Wir sind es den Opfern des 9. Novembers und der Shoa schuldig.

Vielen Dank!“