Pressemitteilung Nr. 285 vom 08.05.2017 „Ein Tag des Gedenkens, der Befreiung und der Versöhnung“

Gedenkstunde zum Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und des Kriegsendes
Oberbürgermeister Jann Jakobs hielt eine Gedenkrede zum 72. Jahrestag der Befreiung
© Oberbürgermeister Jann Jakobs hielt eine Gedenkrede zum 72. Jahrestag der Befreiung
Oberbürgermeister Jann Jakobs hielt eine Gedenkrede zum 72. Jahrestag der Befreiung. Foto Landeshauptstadt Potsdam/ Stefan Schulz

Die Landeshauptstadt Potsdam hat heute anlässlich des 72. Jahrestages des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus der Opfer des Zweiten Weltkrieges gedacht. Oberbürgermeister Jann Jakobs und die Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, Birgit Müller, legten am Sowjetischen Ehrenfriedhof auf dem Bassinplatz einen Kranz nieder. Der Oberbürgermeister hielt eine Gedenkrede, die wir hier dokumentieren:

„Sehr geehrte Vertreter der Russischen Föderation,
der Botschaft der Ukraine,
und der Republik Belarus,
sehr geehrter Herr Muck,
meine Damen und Herren,

in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 wurde im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst das Einstellen aller Kampfhandlungen nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht vereinbart. Nun schwiegen die Waffen.

„Es war irgendwie ungewohnt: Keine Schüsse, keine Salven automatischer Waffen, kein Kanonendonner, kein Heulen von Flugzeugmotoren, kein Pfeifen und Explodieren von Bomben, und man musste nicht zur Attacke aufspringen. Die Kämpfer lauschten mit Andacht in die Stille.“ So heißt es in einer persönlichen Erinnerung aus der 175. Division der Belorussischen Front, die von Norden über Krampnitz nach Potsdam Ende April 1945 vorgedrungen war.

Der Zweite Weltkrieg war in Europa vorbei. Vorbei war ein Krieg, der von Deutschland als erbarmungsloser Eroberungs- und Vernichtungszug begonnen worden war und die unvorstellbare Zahl von an die 60 Millionen Todesopfer forderte.
Vorbei war ein Krieg, der Städte in ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hatte, Menschen entwurzelte und zur Flucht zwang und sich in die Körper und Seelen der Überlebenden so tief hatte hinein fressen können, dass er zwar vorbei, aber nicht abgeschlossen war.

Mit dem Sowjetischen Ehrenfriedhof, an dem wir uns heute versammelt haben, besitzen wir einen wichtigen Bezugspunkt der Erinnerung. Und einen Ort, an dem wir uns vor den meist sehr jungen Soldaten der Roten Armee verneigen können, die ihr Leben gaben, millionenfach, damit der Krieg beendet werden konnte.

Wir gedenken ebenso in Trauer der mehr als 6 Millionen europäischen Juden, die ermordet wurden. Den Tausenden Sinti und Roma, den Menschen mit Behinderung, den politisch Andersdenkenden, den Homosexuellen, all jenen, die verfolgt, gedemütigt und getötet wurden.

Meine Damen und Herren, der 8./9. Mai 1945 trägt eine Vielschichtigkeit in sich, die uns in unserer Erinnerung und unserem Gedenken herausfordert – und auffordert, so gut, wie wir es können, der Wahrheit ins Auge zu blicken.

Während die einen 1945 nach Hause kamen, verloren die anderen ihre Heimat. Während die einen aus den Konzentrationslagern befreit wurden, kamen andere in Gefangenschaft. Während die einen zur Demokratie befreit wurden, gerieten andere in eine neue Diktatur. Während die einen das Ende als Befreiung herbeisehnten, verharrten die anderen in Verbitterung über die Kapitulation.

Während es für die einen ein Tag der Niederlage war, war es für die anderen ein Tag des Sieges. „Ihr werdet die Deutschen immer wieder daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder der Befreiung bezeichnen“, sagte 1985 Heinrich Böll. Natürlich bedeutete das Jahr 1945 für Deutschland eine Niederlage. Das Land war weitgehend zerstört, militärisch erobert und von alliierten Truppen besitzt. Es gab keine deutsche staatliche Autorität mehr. Erschöpfung und Apathie bestimmte den Alltag. Und natürlich bedeutete das Jahr 1945 für Deutschland eine Befreiung. Die Deutschen wurden von den alliierten Truppen befreit vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Doch der sachlich beschreibende Blick auf Niederlage und Befreiung schließt – das meinte Heinrich Böll – eine Einstellung zu unserer Vergangenheit ein. Wer in der deutschen Nachkriegszeit von „Niederlage“ sprach, machte eine nur schmale militärische Gruppe für das Geschehene verantwortlich und eine breite deutsche Bevölkerung pauschal zu Opfern. Und wer von „Befreiung“  redete, betonte allein die Perspektive der Verfolgten. Und mit dieser verengten Sichtweise auf die Tradition des kommunistischen Widerstandes wurde zudem der Gründungsmythos eines eigenen Staates gestiftet.

Der 8. Mai ist damit ein Tag der Selbstbestimmung, nicht nur, aber insbesondere für die Deutschen. Und es bedurfte mehrerer Jahrzehnte, bis der 8. Mai die Deutschen zur Erkenntnis der Wahrheit befreite. Diese Wahrheit schließt die Tatsache ein, dass breite Teile der deutschen Gesellschaft die nationalsozialistische Diktatur mittrugen und sich damit schuldig machten. Und die Wahrheit schließt ebenso die Tatsache mit ein, dass sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Frühjahr 1945 keineswegs vom Nationalsozialismus befreit fühlte. Denn dies hätte vorausgesetzt, dass die Deutschen der NS-Herrschaft überwiegend ablehnend begegnet wären. Das taten sie jedoch nicht.

Der 8./ 9. Mai fordert uns auf, über Schuld und Verantwortung nachzudenken. In der Befreiung durch Erinnerung konnte der 8. Mai – über einen Zeitabstand mehrerer Jahrzehnte und dem damit verbunden Generationswechsel mit vielen Kontroversen – zu einem Tag der Befreiung zur Demokratie werden. Das ist das Vermächtnis des 8. Mai als Tag der Befreiung, und dieses Vermächtnis ist auch dem 9. Mai als „Tag des Sieges“ zuzuschreiben.

Dieses Vermächtnis gilt es gleichwohl zu erhalten und zu stärken. Die unmittelbare Generation nach dem Krieg war noch überzeugt davon, dass die Schaffung von Frieden in Europa das größte Ziel darstellte, das es zu erreichen galt. Ein vereintes Europa wurde als Garant für den Frieden gesehen; und nicht umsonst schlug Frankreichs Außenminister Robert Schuman vor, den 9. Mai als Tag des vereinten Europas zu begehen.

Gegenwärtig erleben wir jedoch, dass der Grundstein der Europäischen Union mehr und mehr in Frage gestellt wird. Auch nach den gestrigen Wahlen in Frankreich, die mit einem Sieg Macrons verbunden sind, steht der europäische Gedanke weiter zur Disposition. Der europäische Zusammenhalt wird in Frage gestellt, auch weil der Frieden nach über 70 Jahren Kriegsende zu einer Selbstverständlichkeit in Europa geworden ist. Wir wissen jedoch, dass angesichts der weltweiten Kriege, der Gewalt und Unterdrückung der Friede, in dem nur Verständigung und demokratische Grundwerte gedeihen können, ein Wert ist, der täglichen Einsatz erfordert.

Die Kraft dafür schöpfen wir auch aus der Erinnerung an den 8./9. Mai 1945: als Tag der Befreiung, als Tag des Sieges, als Tag des Gedenkens und der Versöhnung.“